Donnerstag, 26. Februar 2015

Halbzeit!

"El tiempo pasa volando" - Die Zeit vergeht wie im Fluge:
Am Sonntag (22.02) war es genau ein halbes Jahr her, dass ich hier in Ecuador meinen Freiwilligendienst begonnen habe - unglaublich!
Ich blicke zurück auf ein wundervolles, abwechslungsreiches und spannendes halbes Jahr, in dem ich viel gelernt, viel neues gesehen und neue Erfahrungen gemacht habe.
Ich habe von ecuadorianischen Essgewohnheiten, Feiern bis hin zu den typischen Krankheiten alles ausprobiert und blicke mit Freude und ein Wenig Wehmut auf die noch verbleibende zweite Hälfte des Jahres.
Nächste Woche steht dann auch das Halbzeits-Seminar in Ibarra, in der Nähe der Hauptstadt Quito an, von dem ich euch dann demnächst mehr berichten kann.
Da anlässlich meines "halbjährlichen Jubiläums" hier auch wieder ein Bericht an meine Organisation bezev fällig war, gibt es nun für die Leseratten und Interessierten unter euch ein paar Details und neuen Lesestoff:




26. Februar 2015
                                                                                                                                                             Kathrin Speh
Zweiter Quartalsbericht

“Was?! Halbzeitsbericht? Jetzt schon?!”, das waren so ungefähr die Gedanken, die sich in meinem geschockten Gehirn geregt haben, als mir Laura - meine Mitfreiwillige - mitteilte, dass der Bericht zur Halbzeit unseres Freiwilligendienstes jetzt dann fällig sei. Es ist mehr als unglaublich, dass jetzt schon die Hälfte vorbei sein soll! Die Zeit ist im Nu verflogen und der Gedanke, dass nur noch einmal so ein halbes Jährchen fehlt, bis wir schon wieder im Flieger nach Hause sitzen, ist ein Bisschen (okay, wem versuche ich hier etwas vorzumachen: ziemlich!) unheimlich.
Auf der einen Seite ist dieses erste halbe Jahr unglaublich schnell vergangen und es kommt mir vor, als sei ich gestern erst in München in den Flieger gestiegen – gespannt, aufgeregt und neugierig auf das, was da kommt.
Andererseits ist aber in der Zwischenzeit so viel passiert, ich habe so viel erlebt, gelernt und genossen – das schürt meine Vorfreude auf die zweite Halbzeit umso mehr!
Mittlerweile ist nicht mehr alles neu (natürlich immer noch vieles, aber eben nicht mehr alles) – das kleine Andenstädtchen, dass jeden Morgen mit der genialen Aussicht auf die Berge, in die es eingebettet ist, auf mich wartet, fasziniert mich zwar immer noch jeden Morgen, aber ich wohne eben mittlerweile hier. Es ist meine Heimat geworden, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Ich werde nach dem Weg gefragt (und kann sogar eine hilfreiche Antwort geben!), unternehme Dinge mit Freunden und als mir vor kurzem einmal gesagt wurde, dass ich mir den Cuencano-Dialekt angeeignet hätte, musste ich wirklich lachen. Es fühlt sich einfach nicht mehr fremd an.
Nach einem halben Jahr taucht man tiefer in die Kultur ein, die einen umgibt. Man lernt die kleinen Nuancen kennen, die winzigen Unterschiede, die oft nicht einmal in Worte gefasst werden können, sondern die man einfach unterbewusst wahrnimmt und sich intuitiv anpasst. Smalltalk, Humor, bestimmte (religiöse) Ansichten,… die kleinen Dinge des alltäglichen Zusammenlebens werden langsam verständlich, verstanden – und reproduziert.
Das ist nämlich die andere Seite eines so intensiven Eintauchens in eine fremde Kultur – man selbst verändert sich mit. Seit dem Tag, an dem ich in Quito aus dem Flieger gestiegen bin, als ich hier zu Arbeiten begonnen habe, während ich mich in meine Gastfamilie eingelebt habe, beim Kennenlernen und Freundschaften knüpfen mit Einheimischen, im Umgang mit den Kindern, in zahlreichen Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen hier – Tag für Tag kann ich mich quasi dabei beobachten, wie ich mich verändere. Einige Veränderungen sind intuitive Anpassungen aufgrund von Nachahmung: Bestimmte Besonderheiten in der Gestik, Mimik und Ausdrucksweise. Andere Veränderungen kommen schleichend und bergen ein ungeheures Potential. Aus seiner eigenen Kultur auszutreten und in eine andere einzutauchen bietet unbegrenzte Möglichkeiten – wenn man sie denn zu nutzen weiß. Es erfordert manchmal Einiges an Willenskraft und Zurückhaltung, sich Dinge anzuhören oder anzusehen, die beim ersten Eindruck, vor dem Hintergrund der eigenen Kultur, einfach zu absurd erscheinen. Aber meine Neugier ist größer und das hilft mir, eine ehrliche Offenheit beizubehalten, die es den neuen Eindrücken und Ansichten erlaubt, meine Gedanken zu durchwirken – und zu verändern. Das geht nicht Schlag auf Schlag, viel mehr ist es ein sanfter, leiser Prozess, der sich wie mit Samthandschuhen an dich herantastet und langsam, Stück für Stück deinen Blick öffnet, deinen Gedankenradius weitet und dich spüren lässt, dass da noch viel mehr ist als du immer dachtest. Das ist es, denke ich, was einem nicht in einem 2-Wochen-Pauschalurlaub passieren kann. Für diese Erfahrung muss man tiefer eintauchen, sich wirklich auf die Kultur einlassen, mit den Menschen leben, arbeiten und Zeit verbringen – und das bietet in dieser Form nur ein Freiwilligendienst. Ich muss gestehen, ich hatte schon im Vorfeld nicht allzu viele Zweifel, aber hier bin ich mir mit jedem Tag, der verstreicht, sicherer, dass der weltwärts-Freiwilligendienst das absolut richtige für mich ist.
Aber nicht nur meiner persönlichen Entwicklung tut dieses Jahr gut – auch für meinen zukünftigen Arbeits- und Studienweg wird dies hier bestimmt noch sehr hilfreich sein. Es ist sehr interessant, vor dem Studienbeginn erstmal etwas Arbeitserfahrung zu sammeln – und auch hier spielt wieder der Zeitraum eine große Rolle, denn der Unterschied zwischen ein paar Wochen und einem ganzen Jahr Arbeitsalltag (und das in derselben Institution) ist gewaltig. Mir wurde dadurch, dass ich mit einer Erzieherin der Fundación zusammenlebe, schon in der ersten Zeit bereits viel über die Hintergründe und Werdegänge einiger Familien erzählt -  aber lange genug hier zu sein, um diese Dinge selbst miterleben zu können, ist etwas ganz anderes. Wir werden hin und wieder auf Hausbesuche mitgenommen, lernen die Familie und die Wohnsituation der Kinder kennen, bekommen mit, wie Familien, die nicht mehr so viel Hilfe benötigen, sich langsam aus der Fundación verabschieden, wie neue Kinder eintreten und integriert werden, wie Streitigkeiten entstehen und gelöst werden,…
In unseren sechs Monaten hier durften wir nun auch schon den einen oder anderen Engpass in der Fundación miterleben. Hier seien zum Beispiel die Wochen zu nennen, in dem ein Erzieher gefehlt hat und Laura und ich die morgendliche Gruppe der Jugendlichen und die Siebtklässler am Nachmittag allein betreut haben. Die Suche nach einem neuen Erzieher hat sich ziemlich schwierig gestaltet und so ist der vorherige Erzieher, Marco Carrión nun für den Zeitraum von drei Monaten (der Abwesenheit der Direktorin) aushilfsweise zurückgekehrt – allerdings ist noch immer unklar, wer ihn nach diesem Zeitraum ersetzen wird. Die Direktorin Betty Valarezo ist seit Ende Januar nicht mehr in der Fundación, da sie zu ihrer krebskarnken Schwester nach Frankreich gereist ist – sie wird in drei Monaten wiederkommen. Zwar ist das Fehlen der Direktorin für die Kinder nicht ganz so sehr spürbar wie das Fehlen eines Erziehers, aber hinter den Kulissen bedeutet das eben mehr Arbeit und Stress für das ganze Fundacións-Team. Und dazu gehören mittlerweile auch wir Freiwilligen. Wir haben immer mal wieder auch Freiwillige von anderen Organisationen da, die meisten aus den USA, die für kürzere Zeiträume in der Fundación mithelfen, aber auch hier ist der gravierende Unterschied der Zeit zu spüren – vom Kontakt zu den Kindern bis hin zur Sprache ist es einfach eine ganz andere Sache, ob man nur kurze Zeit in der Fundación ist, oder einen ganzen Jahreszyklus hier miterlebt. Laura und ich gehören mittlerweile zum eingespielten Team der Fundación, uns werden andere Aufgaben übertragen und es wird Eigeninitiative erwartet – so bringe ich zum Beispiel seit einiger Zeit fünf unserer Kinder nachmittags zu einer sozialpädagogischen Therapie, organisiere den Transport der Kinder an den kulturellen Freitagen und tätige hin und wieder Telefongespräche für die Fundación (hier wird vor allem von meinen Englischkenntnissen Gebrauch gemacht, da die Fundación auch mit einigen US-amerikanischen Organisationen zusammenarbeitet). Alles in Allem ist es eine schöne Arbeit, die mir auch nach einem halben Jahr noch sehr gut gefällt. Besonders gerne schaue ich auch auf die Highlights dieser letzten Monate zurück, wie zum Beispiel die große Weihnachtsfeier in Andacocha mit Kindern, Eltern und Verwandten oder dem tagelangen Feiern von Karneval in der Fundación, bei dem die Kinder tagtäglich einen Heidenspaß am Nassmachen von anderen Kindern, den Erziehern, den Freiwilligen und generell der ganzen Fundación hatten.
Auch für die zweite Hälfte stehen sowohl privat als auch geschäftlich einige Highlights an: In der Fundación steht noch jeweils ein Zeltlager für die Kinder und eins für die Jugendlichen am Ende des Jahres an und außerdem werden mich meine Eltern am Ende meines Freiwilligendienstes für eine gemeinsame Rundreise besuchen.
Diesbezüglich heißt es, jetzt schon die Ferien mehr oder weniger einzuteilen, da wir schließlich nur zwei wertvolle Wochen haben – auch eine sehr interessante Erfahrung, nach 12 Jahren Schulalltag und –ferien.
Auch steht für die zweite Hälfte die Reise meiner Gastfamilie nach USA an, der schon lange entgegengefiebert wird, da die Tochter meiner Gastmutter dort studiert und diese Reise ein Wiedersehen nach langer Zeit ermöglicht. Auch hier wird deutlich, wie mit der Zeit das Vertrauen wächst und mir auch innerhalb der Familie mehr Verantwortung übertragen wird – immerhin wurde ich bereits zum Haussitter für diesen Monat ernannt ;)
Als unmittelbar nächste Besonderheit steht allerdings erst einmal unser Zwischenseminar in Ibarra an, wohin wir nächstes Wochenende reisen werden. Ich bin schon sehr gespannt darauf, die anderen Freiwilligen kennen zu lernen, mehr über andere Projekte zu erfahren und bereits ein wenig über unsere Zeit und Erfahrungen hier zu reflektieren. Ich bin sehr neugierig darauf, ob es anderen Freiwilligen ähnlich geht wie uns hier in Cuenca und in der Fudación el Arenal, denn ich kann mir gut vorstellen, dass dies stark vom Projekt, dem Einsatzort und der Gastfamilie abhängt.

Was dies angeht, so habe ich das Gefühl, in diesen Aspekten wirklich sehr viel Glück gehabt zu haben und so schaue ich mit einem lachenden (es bleibt immer noch eine zweite Hälfte) und einem weinenden Auge (das Ende naht) der zweiten Hälfte meines Freiwilligendienstes entgegen.

Mittwoch, 18. Februar 2015

Cultural Corner

Es sind nicht nur die gewaltigen, offensichtlichen Dinge wie Zeitzone, Sprache, Klima - oft sind es vielmehr die kleinen Dinge, die alltäglichen Eigenartigkeiten, die das Gefühl ausmachen, das wir später "Kulturunterschiede" nennen und doch kaum in Worte fassen können.

weil diese kleinen Dinge meiner Meinung nach mindestens ebenso interessant (wenn nicht sogar manchmal viel interessanter!) sind, möchte ich euch in meinem cultural corner immer wieder die eine oder andere Kleinigkeit vorstellen, die mir hier so auffällt.

Der Telenovela-Hype
Meine Vorgänger-Freiwillige hat offenbar einmal beim Abendessen festgestellt: "Hier nehmen alle irgendwelche Drogen", woraufhin meine Gastoma entsetzt erwiderte: "Pass auf, was du da sagst! In unserem Haus nimmt keiner Drogen!". Daraufhin meinte meine Kollegin anscheinend nur: "Aber natürlich. Oder was ist das mit euren Telenovelas? Das ist doch schon beinahe wie eine Droge!". Als mir diese Anekdote mit einem Schmunzeln erzählt wurde, musste ich zunächst auch noch herzlich lachen. Als ich dann aber zum ersten Mal mitbekommen habe, wie die ganze Familie bis nachts um zwei aufgeblieben ist, weil eine Sonderausstrahlung ihrer Lieblingstelenovela im Programm war und am nächsten Tag wie gerädert herumgelaufen ist und nachdem das abendliche Familienleben ohnehin nach Sendezeiten getaktet ist, verstehe ich langsam den Ernst der Lage.
Es ist nicht nur so, dass einzelne Familien einzelne Telenovelas verfolgen, nein. Vielmehr gibt es bestimmte, die bereits zur Allgemeinbildung zählen und einfach jeder hier kennt.
Von den Protagonisten wird gelernt, mit ihnen gehofft und gebangt und es werden Spekulationen angestellt, wer der Bösewicht sein könnte, die nicht lebendiger sein könnten, wenn sich das ganze Drama im Nachbarhaus abspielen würde.
Nun kann man sagen, dass dies in der Generation meiner Gastgroßeltern nicht verwunderlich ist und das habe ich mir auch versucht einzureden - aber dieser Telenovela-Hype zieht sich durch alle Generationen.
Am Höhepunkt war mein Erstaunen aber, als ich "unsere" Kinder letzte Woche im Computerraum erwischt habe - mucksmäuschenstill saßen sie dort im Dunkeln, was mich misstrauisch gemacht hat (wer "unsere" Kinder kennt, der weiß, wie ungewöhnlich das ist). Doch als ich näherkomme, um zu sehen, was da vor sich geht, traue ich meinen Augen kaum: Ungefähr 10 unserer Jugendlichen (zwischen 12 und 16 Jahren) haben sich in das enge Räumchen gequetscht und schauen gebannt - eine (Jugend-)telenovela!